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Travel Burnout: Wie ich mich zum Camping überwand – und mich richtig erholte

Reisen

Travel Burnout: Wie ich mich zum Camping überwand – und mich richtig erholte

Unsere Autorin fürchtete, geradewegs in eine Midlife-Crisis zu schlittern, als sie sich Ende 30 ihr erstes Zelt zulegte. Dass sie damit ein ganz anderes Problem anging, verstand sie erst viel später.

«Was zum Teufel hast du dir bloss dabei gedacht?» Ich war erst vor Stunden an meinem Wochenenddomizil angekommen, aber meine Gedanken spielten bereits verrückt – obendrauf war ich allein mit ihnen. Draussen, im Campingbereich eines Bauernhofs mitten in der Pampa, war es stockfinster, genauso wie im Innern meines klitzekleinen Zeltes.

Das dünne Nylon-Dach spannte sich unangenehm nah an mein Gesicht. Etwas tappte darauf hin und her. Ein Mensch war es definitiv nicht. Mein Herz pochte mir schier aus der Brust. Nachsehen, was es denn nun war? Keine Chance. Ich war starr vor Angst.

Es ist offensichtlich: Ich bin keine dieser Personen, für die Camping das Natürlichste auf der Welt ist. Das letzte Mal, als ich ein Wochenende im Zelt verbrachte, war 2003; damals mit einer Gruppe Schulfreund:innen, am Open Air St. Gallen.

Wir hatten die Zeit unseres Lebens, waren jung und unbefangen, torkelten nachts meist gut angetrunken ins Zelt, schliefen wenig, aber tief. Wir campten allerdings auch inmitten in eines dicht besiedelten Zeltdorfes, umgeben von Lichtern und Stimmen. Selbst wenn sich Wildtiere dazwischen getraut hätten: wir hätten sie nie und nimmer wahrgenommen.

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«Mein Freund versicherte mir, dass mir hier kein Tier gefährlich werden könnte. Ich wollte ihm glauben, aber wusste nicht wie»

Zwanzig Jahre später lag ich nun also allein und stocknüchtern in meinem 1,5-Quadratmeter-Zelt. Statt den Sternenhimmel und die Ruhe zu geniessen, rang ich mit der Natur und griff zum Handy. Mein Freund versuchte, mich per WhatsApp zu beruhigen und versicherte mir, dass es in dieser Gegend kein Tier gibt, das mir in der Fragilität meiner Zeltburg gefährlich werden könnte.

Ich wollte ihm glauben, aber wusste nicht wie. Als endlich Stille einkehrte, schlief ich von Schnappatmung erschöpft und mit dem Gedanken an zwei weitere dieser Nächte ein – was zum Teufel hab ich mir nur dabei gedacht!

Nach Jahrzehnten im Stadtalltag die Natur neu kennenlernen

Nun, ich wollte öfter in der Natur sein. Sie hatte mir in den letzten Jahren immer wieder Energie gegeben, wenn mich der Alltag zu erdrücken drohte. Campen stand schon länger auf meiner To-do-Liste, aber mir war nach knapp zwei Jahrzehnten Alltag in der Stadt schmerzlich bewusst, dass es ein Herantasten werden müsste.

Denn so nackt – ohne Haustür, die ich abschliessen könnte, ohne Betonwände, die mögliche Eindringlinge zuversichtlich fernhalten würden – Flora und Fauna ausgeliefert sein, davor hatte ich inzwischen riesigen Respekt.

Den Zeltkauf wog ich schliesslich lange ab: Muss ich mit Ende 30 wirklich noch anfangen, zu campen? Klopft da nicht etwa schon die Midlife-Crisis an?

«Die nächstgelegene Zivilisation: 25 Gehminuten entfernt»

Als ich an jenem Morgen schliesslich in meinem ersten eigenen Zelt aufwachte, spürte ich den kühlen Tau und roch das feuchte Gras. Ich zog den Reissverschluss hoch und entdeckte durchs dreieckige Fenster noch halb liegend den blauen Himmel.

Mit einer Tasse heissem Tee und Yogamatte schlappte ich aufs Feld und begann, mich langsam zu bewegen, die frische Luft einzuatmen und mich von den Sonnenstrahlen wärmen zu lassen.

Ich sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen: Ich war nicht allein in der Pampa. Wie die elf anderen Frauen um mich herum nahm ich an einem Retreat teil. Auf dem Programm für die folgenden zwei Tage standen Brotbacken, Korbflechten, gemeinsames Ernten, Kochen und Essen unter freiem Himmel, und eben Yoga.

Der Bauernhof mit seinen Gewächshäusern, Gemüsebeeten, Traubenreben, Hühner- und Geissengehegen und zwei kleinen Teichen war ein Wochenende lang unser Zuhause. Es gab dort einen grossen Schopf, ein Kompost-WC, eine Outdoor-Dusche und wir alle brachten unsere eigenen Zelte als Schlafzimmer mit. Die nächstgelegene Zivilisation: 25 Gehminuten entfernt.

Die Zeit vergeht langsamer

Bei mir machte sich schnell der Eindruck breit: Die Zeit vergeht hier draussen deutlicher langsamer als sonst. Sehr viel langsamer als in meinem städtischen Alltag. Es lag definitiv nicht daran, dass wir nichts zu tun gehabt hätten – die Tage waren gefüllt mit Aktivitäten.

Statt wie gewohnt zwischen den eigenen vier Wänden, endlosen Gebäudekomplexen, ÖVs und Stadtlärm fanden die aber fast ausschliesslich draussen statt – ein entscheidender Unterschied, es zwitschern nämlich nicht nur Vögel: Das Wetter tat, was es wollte.

Es regnete, zwischendurch schien die Sonne, dann wieder Regen, einmal sogar Hagel. Ich spürte jeden Umschwung in Echtzeit am ganzen Körper. Auf mein Handy schaute ich seit meiner Panik in der ersten Nacht kaum noch. Am Ende des zweiten Tages wickelte ich mich in meinen Schlafsack und döste innert Minuten weg. Am dritten Tag: dasselbe.

«Es fiel mir schwer, mich zu verabschieden. Nicht von der Gruppe, sondern vom Gefühl der Erholung»

Am Montag fiel es mir schwer, mich zu verabschieden. Weniger von der Gruppe als von dem Gefühl, das sich hier in mir einnistete. Ich war den ganzen Tag beschäftigt, fühlte mich von Aufgaben und neuen Menschen gefordert, auch mal überfordert, aber trotzdem spürte ich nach diesen drei Tagen vor allem eines: Erholung.

Etwas, das ich in den letzten Jahren nur noch selten mit einem Kurztrip oder gar mit Ferien in Verbindung brachte. Und damit bin ich nicht alleine.

Auch auf Reisen schalten wir längst nicht mehr ab

Meine Kollegin Vanja Kadic veröffentlichte im vergangenen Jahr einen persönlichen Essay über ihre Travel Anxiety – über den Stress, der sie vor den Ferien jeweils überkommt, vorab alles organisieren müssen, die Gedanken an den Mailberg, zu dem sie unweigerlich zurückkehren wird.

In den letzten Monaten hörte ich auch vermehrt von einer Art Erschöpfung vom Reisen selbst: «Allein der Gedanke an einen weiteren Flug macht mich fertig», meinte eine Bekannte neulich und schlug in der Folge die Hochzeitseinladung eines guten Freundes aus.

Eine andere Freundin spricht ganz konkret von einem Travel Burnout wegen ihrer vielen beruflichen und privaten Reisen. Und ich musste nicht lange überlegen: Ich kenne all das aus eigener Erfahrung.

«Trips nach Berlin, Paris, Hamburg – in der Regel retour innert 24 Stunden»

In meinem ersten Jahr als Freelancerin nahm ich ein mehrmonatige Vertretung an, für die ich hin und wieder reisen musste. Trips nach Berlin, Paris, Hamburg – in der Regel retour innert 24 Stunden. Der Killer war schliesslich ein zweitägiger Job in New York.

Ich fühlte mich ausgebrannt, ganz so wie es der Begriff Travel Burnout nahelegt. Der Gedanke an jeden weiteren Trip war mehr Qual als Wahl, genau wie es meine Bekannte beschrieb.

Rückblickend war dieser Moment einschneidend für mich. Seither begann ich meine Reisen bewusst zu reduzieren. Beruflich reise ich so gut wie gar nicht mehr.

Und seit mir unmissverständlich klar wurde, wie schädlich das intensive Reisen nicht nur für unsere eigene Gesundheit, sondern auch für unseren Planeten ist, versuche ich auch der Umwelt wegen akribischer denn je auszuwählen, wann und wohin ich reise und ob ich überhaupt verreise. Das Flugzeug meide ich so gut es geht. Und in den allermeisten Fällen geht das mit etwas Mehraufwand.

Erholung liegt nicht in der Ferne, sondern in der Loslösung von Gewohntem

Ferien sind wichtig, ganz klar. In Ländern wie der Schweiz, wo sich sehr viele Menschen noch mehrere Reisen im Jahr leisten können, sind sie jedoch oft gleichbedeutend mit einem Abstecher ins Ausland. Und ob das die richtige Haltung ist, daran zweifle ich heute mehr denn je.

Ich musste in den letzten Monaten oft an einen Gedanken denken, den meine Kollegin Stephanie Hess in ihrer Reportage zu Nachtzügen («Umsteigen bitte», annabelle #3, 2024) formulierte: «Was, wenn es uns gelingt, das Reisen neu zu denken?»

Sie zitiert in ihrem Text etwa aus dem Buch «Tourismussoziologie» der Soziologin Kerstin Heuwinkel. Die Formel «Ich bin dann mal weg» beziehe sich aktuell noch auf die Lösung des Körpers vom Gewohnten. Gleichzeitig reduziere der Gebrauch der sozialen Medien und die virtuelle Kommunikation heute die tatsächliche Loslösung.

Heuwinkel schreibt: «Es gilt: Ich bin zwar weg, aber immer noch erreichbar.» Eine wesentliche Frage für die Zukunft werde also sein, ob auch eine Umkehrung der Situation denkbar ist, um Urlaub zu definieren: «Ich bin zwar hier, aber nicht erreichbar.»

«Wir schauten kaum aufs Handy und hatten die Zeit unseres Lebens»

Inzwischen habe ich auch eine vage Ahnung, warum ich damals dachte, dass Campen eine gute Idee für mich sei. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es noch nicht die Midlife-Crisis war. Wahrscheinlicher scheint mir, dass ich einem Bedürfnis nach einem möglichst drastischen Einschnitt in meinen Alltag folgte. Oder in Heuwinkels Worten: Ich versuchte, meinen Körper aus dem Gewohnten zu lösen.

Kurz nach dem Wochenende auf dem Bauernhof verbrachte ich ein weiteres im Zelt. Diesmal vier Tage und, wie damals, wieder an einem Festival. Mein Freund war dabei; wir schauten beide kaum aufs Handy. Nicht nur hatten wir die Zeit unseres Lebens – wir waren auch danach richtig erholt.

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Corinna

Ein wohltuender Artikel und ich kann das Gefühl absolut nachempfinden wir entfremden uns immer mehr von der Natur und ich denke die Zeit wird reif wieder zu ihr zurückzukehren und sie zu spüren und wertzuschätzen.

Ines

Spannend, schön geschrieben – und zugleich dachte ich nach einigen Zeilen: na jaaaa… so wirkliches Zelten in der Natur ist das nicht, in der Gruppe, innerhalb eines Retreats.
Ich bin ebenfalls Ende 30, hab mir vor zwei Jahren auch das erste Mal nach Jahrzehnten ein Zelt geschnappt und bin alleine los: in die Berge, an den Atlantik, den mittleren Osten. Das Zelt habe ich selten auf Campingplätzen, sondern meistens irgendwo aufgeschlagen, das Herz ist mir in den Nächten wegen irgendwelcher Geräusche immer wieder in die Hosentasche gerutscht und erfroren wäre ich (gefühlt zumindest) auch schon ein paar Mal. Aber ich möchte es auf keinen Fall missen.

Ich hätte es spannend gefunden, wenn ihr auch auf eine solche Art des Reisens einmal eingehen würdet. Etwas, das nicht organisiert ist, das kein Retreat ist, nichts mit Yoga, Breathwork, Lifestyle, Selbstfindung oder sonst was zu tun hat, sondern einfach nur: mutig alleine drauf los.