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Meinung: Buchstabenketten reichen nicht – wir brauchen sie trotzdem

Leben

Meinung: Buchstabenketten reichen nicht – wir brauchen sie trotzdem

Wer sich über queere Identitäten nervt, weiss zu wenig über sie. Und genau das muss sich ändern, schreibt Gastautorin Anna Rosenwasser.

Happy Pride Month!, sagen die Firmen und die Läden und die Parteien, wenn sie sich einmal im Jahr den Regenbogen überstreifen – nur um ihn dann Ende Monat wieder abzulegen. Man kann da jetzt antikapitalistisch darüber wettern – was etwa 75 Prozent meiner Freizeit ausmacht –, muss aber auch eingestehen: Damit geben sie der Regenbogen-Community doch mehr Sichtbarkeit, als das in den vergangenen Jahrzehnten der Fall gewesen ist. Sowieso: Gleichgeschlechtliche Liebe ist sichtbarer geworden, und trans Themen tauchen häufiger in den Medien auf. Auf den Kanälen jüngerer Generationen sowieso: Auf Insta stellt man sich so oft mit Pronomen vor (bei mir ist es sie/ihr), dass die App in den USA bereits eine eigene Kategorie dafür eingeführt hat. Auf Tiktok ist natürlich die regenbogenfarbene Hölle los mit Identitäten, von denen ältere Generationen noch nicht mal gehört haben. Und auf Facebook wird immerhin geheiratet, Ehe für alle, die es bald sogar in unsere Abstimmungen schafft.

Wir könnten also meinen: Diese queeren Identitäten sind überall. Was ja auch gut so ist, da sind sich viele gesellschaftsliberale Menschen einig. Und doch höre ich immer wieder die selbe Frage: Was soll das mit diesen ganzen Buchstaben? LGBT? LGBTQ? LGBTQIA? Mit einem Plus, mit Sternchen, mit nie enden wollenden Erweiterungen? Die Frage kommt nicht immer von rechten Menschen, die gegen Menschenrechte sind. Im Gegenteil: Ich höre sie sehr oft von offenen, modernen, wohlwollenden Mitmenschen. Letztens habe ich sie hier gelesen, bei annabelle: Vor lauter Buchstaben sehen wir die Menschen dahinter nicht mehr, schrieb Helene Aecherli. Der fast schon inflationäre Gebrauch von Buchstabenketten wie LGBTQIA+ irritiere sie zunehmend.

Sind denn plötzlich alle queer?

Ich könnte jetzt schon so tun, als wäre das queerfeindlich. Ist es aber nicht unbedingt: Manchen Queers geht es genau so. Viele von uns, Leute in der Community wie auch ihre nichtqueeren Verbündeten, sind überfordert mit all diesen neuen Wörtern: Was ist der Unterschied zwischen bisexuell und pansexuell? Wofür steht das I denn jetzt plötzlich? Und, mal ehrlich: Sind denn jetzt plötzlich alle queer, als wäre das eine Art Trend?

Njä. Njäääää. Ich glaube, wir fangen mal mit etwas Grundsätzlichem an: All diese Menschen haben schon immer existiert. Schon immer gab es Leute, die weder Frau noch Mann sind. Und gleichgeschlechtliche Anziehung gibt es, seit es Anziehung gibt. Trans-Identitäten, intergeschlechtliche Körper und auch Asexualität: All das ist Teil des Menschseins (und übrigens auch der Tierwelt). Was sich geändert hat, ist nicht, dass wir plötzlich so werden, sondern, dass wir immer mehr Worte dafür finden und anfangen können, den Raum einzunehmen, der uns zusteht.

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«Ein Grund, weswegen uns diese Buchstaben manchmal nerven, ist, dass wir sie nie richtig erklärt bekommen»

Anna Rosenwasser

Liebe Lesende, wenn ihr in eurer Verwandtschaft keine einzige geoutete queere Person kennt – eine bisexuelle Cousine oder einen trans Onkel zum Beispiel –, dann bedeutet das nicht, dass der Trend bei eurer Verwandtschaft noch nicht angekommen ist. Sondern, dass eure Mitmenschen nicht geoutet sind. Und vielleicht selbst nicht einordnen können, was in ihnen drin abgeht. Denn: Es reicht eben tatsächlich nicht, von Buchstabenketten konfrontiert zu werden. Daran schuld sind aber nicht die Buchstabenketten. Die Lösung liegt nicht darin, dass wir einfach zu «Schwule und Lesben» zurückkehren, als gäbe es nur zwei Farben im Regenbogen. Ein Grund, weswegen uns diese Buchstaben manchmal nerven, ist, dass wir sie nie richtig erklärt bekommen. Vektorgeometrie, Zellteilung, französische Deklinationen: Wir lernen in der Schule sehr anspruchsvolle Dinge, von denen wir manches nie wieder gebrauchen. Aber wie Anziehung und Geschlechtsidentität funktionieren: Das ist wohl zu kompliziert. Oder aber: Diejenigen, die bestimmen, was wir lernen, halten diese Themen nicht für wichtig genug.

Wir leben in einer Welt, in der viele geoutete Queers existieren, Seite an Seite mit Leuten, die nichts wissen über sie. Kein Wunder, wirkt LGBTQIA wie eine leere Buchstabenfolge: Solang wir nur eine vage Ahnung haben, was sich hinter den Buchstaben verbirgt, sind sie nur Buchstaben. Die dekorativ und oberflächlich wirken wie ein Handtäschli, weil wir nicht checken, dass sich dort drin inmitten des Glitzers Überlebenstools befinden.

Wir brauchen mehr als ein Wort

Wenn Firmen, Läden und Parteien sich im Juni den Pride Month aneignen, wollen sie oft nur den Glitzer. Kein Wunder, wirkt die queere Community dann eher wie akkumulierte Selbstvermarktung – denn es wird vor allem denen Gehör geschenkt, die in dieses Marketingkonzept passen. ganz schön blass, nur den Glanz zu wollen. Dass sich unter dem Regenbogen eben nicht nur #loveislove verbirgt, braucht mehr als ein einzelnes Wort. Es braucht viele Wörter, neue Wörter – zusammen mit alten Wörtern. Das mag denjenigen, die weder nichtbinär noch genderqueer sind, superunnötig erscheinen. Aber das ist halt, mit Verlaub, auch einfach etwas irrelevant. Relevant ist, dass sich mehr und mehr Menschen den Raum nehmen, der ihnen schon immer zugestanden wäre. Als Individuen wie auch als Community. Nicht, um besser zu performen, denn wir sind keine Firma. Wir tun dies, um zu überleben. Und dann: zu leben. So, wie es nichtqueere Menschen können.

Happy Pride Month.

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