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Kommentar: Sam Smiths sexuelle Revolution tut uns allen gut

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Kommentar: Sam Smiths sexuelle Revolution tut uns allen gut

Unserer Kulturredaktorin fehlt im zeitgenössischen Mainstream-Pop ein gesunder Umgang mit Sex. Warum Sam Smith eine Lücke füllen könnte.

Die Berührungspunkte zwischen Sam Smith und mir waren bisher begrenzt. Beruflich schreibe ich über Popmusik, wie Smith sie macht, die Mainstream-Hits lassen mich in der Regel jedoch kalt, sind mir oft zu kalkuliert. Mit dem vierten Studioalbum könnte sich das Blatt nun tatsächlich wenden. Denn «Gloria» gleicht einer Offenbarung. Musikalisch nur bedingt, visuell umso bedingungsloser.

Smith identifiziert sich als queer, ist als Mann geboren, fühlt sich jedoch mindestens so weiblich wie männlich und benutzt seit 2019 das Pronomen they/them. In einigen Ländern, darunter Deutschland, Österreich oder Dänemark, gibt es dafür amtliche Geschlechtskategorien wie «divers». In der Schweiz wurde ein Vorstoss in der Sache vor Kurzem abgelehnt. Auch die britische Regierung lehnte eine solche Vorlage für Smiths Heimat ab.

Was hat das mit «Gloria» zu tun, fragt ihr euch? Seit das Album erschienen ist, fluten reihenweise Bilder das Internet, die Smiths Identität so plakativ veranschaulichen wie nie: Im semi-transparenten Taftkleid auf der Couch von Talkmaster Jimmy Fallon, zwei Tage später zwei Performances bei «Saturday Night Live», einmal in einer pinken Diva-Robe aus Tüll, die Designer Tomo Koizumi völlig unironisch als «The Biggest Dress» betitelte, dann im bodenlangen Gold-Pailletten-Cape. Smith wirkt bei diesen Auftritten frei und tiefenentspannt.

Neu sind solche Bilder nicht – dennoch aber kraftvoll

Neu sind Bilder männlich gelesener Popstars in weiblich konnotierten Kleidern nicht, und natürlich ist Smiths derzeitige Omnipräsenz auch kein Zufall, sondern wohl einer akribisch koordinierten Marketingmaschinerie geschuldet. Dennoch sind diese Bilder kraftvoll. Das Beispiel des Musikvideos zur Single «I’m Not Here To Make Friends» macht es deutlich.

Mit dem Video kam plötzlich harscher Gegenwind auf. Der Grund? Ich finde wirklich keine einleuchtende Erklärung, die im Popkontext haltbar wäre. Neben den «Saturday Night Live»-Looks trägt Smith im Video glitzernde Nippel-Pasties und Korsett, auch mal Strapse und noch mehr grosse Roben. Tänzer:innen zeigen hier und da Füdli, Smith hangelt lasziv an einem Kronleuchter – kurzum: Es wird viel kokettiert. «Pornografisch», wie konservative Lager den Clip bezeichnen, ist daran nichts.

Doch die britische Politikerin Alexandra Phillips, Mitglied der Aussenrechts-Partei Reform UK, scheint sich im britischen Frühstücksfernsehen sicher, dass die Zunahme von Sexualverbrechen eine Folge solcher Musikvideos sei. Der christliche Influencer Oli London fürchtet vermeintlich um den Ruf der LGBTQ-Community, nennt Smith eine Person, die alles zu sexualisieren versuche und Kinder indoktrinieren wolle. Auch US-Videoproduzent Robby Starbuck bezeichnete Smith als «Groomer».

Explizit wird es nie

Nun, ich muss bei dem Video in erster Linie freudig schmunzeln, immer wieder. Denn ja, es steckt voller Anspielungen auf Underground-Szenen, queere Ikonen und Schlüsselmomente in Musik, Film und Kunst: Frankie Goes to Hollywood, «Paris is Burning» und Robert Mapplethorpe etwa. Eine Altersfreigabe fürs Video wäre trotzdem völlig unbegründet, denn so extrem die Szenen in diesen Subtexten teils sein mögen, verstehen wird sie nur, wer die Referenzen eh schon kennt oder sich intensiv durch Fan- und Kommentarspalten klickt. Der entscheidende Punkt: «I’m Not Here To Make Friends» lebt von Anspielungen, explizit wird es nie.

Smith bleibt ohnehin seelenruhig. Statt sich auf einen Onlinekrieg einzulassen, übertönen Lobgesänge auf Designer:innen, die für die vielen flamboyanten Looks verantwortlich sind, gehässige Kommentare. Zum Nippel-Pasties-Look aus dem Video schreibt Smith etwa: «Eines der spassigsten Outfits, die ich je getragen habe – all die Schmerzen wert. Vielen Dank, dass ihr mich so naughty but nice fühlen lasst».

Einen einzigen Seitenhieb gibt es im Post zu einem Mehr-oder-minder-Nacktdress, das doch alles Nötige verdeckt: «I’m not sorry … it’s human nature», steht dabei: Tut mir nicht leid, es ist nur menschlich – die Worte sind auch ein Zitat aus «Human Nature» einem Kult-Song von Madonna, in dem die Musikikone singt: «Oops, ich wusste nicht, dass wir nicht über Sex reden können.»

Ein offensiver Umgang mit Sex – jedoch nie aggressiv

Was mich an Smiths neuer Ära begeistert, ist der Bedacht, mit dem jeder Auftritt kuratiert scheint. Aber viel mehr noch als das, ist es jenes Naughty but nice. Die englische Formulierung lässt sich nicht ganz wortgetreu übersetzen, besagt aber in etwa: ungezogen, sexy, und dabei nett; harmlos im besten Sinne. Es ist ein offensiver Umgang mit Sex, im Vergleich zu vielen anderen Beispielen aus dem Mainstream-Pop wirkt das jedoch nie aggressiv. Ein Knackpunkt.

Smiths Auftritte sind over the top, ganz klar, gleichzeitig ist es keine Travestie: Die Pobacken wackeln mit einem Augenzwinkern, aber weder ironisch noch sarkastisch – am ehesten mit Lizzo vergleichbar. Diese Unbekümmertheit und der selbstbewusste Spassfaktor sind eine Art von Machtdemonstration, mit der mir weitaus wohler ist als mit den forschen, hyper-sexualisierten und gleichzeitig überpolierten Auftritten von Pop- und Rapstars wie Cardi B.

Fortführung eines Kampfes

Dass wir in einem Zeitalter leben, in dem es Frauen – zumindest in westlich geprägten Gesellschaften – möglich ist, sexuell selbstbestimmt zu leben und sich entsprechend auszudrücken, ist ein Fortschritt, kein Zweifel. Aber wenn die Sexualität ins Aggressive kippt, wenn sie offensiv und facettenlos eintritt und womöglich als Kurzschluss-Antwort auf Unterdrückung dient, dann sehe ich darin keine Befreiung, für mich ist das schlichtweg die Fortführung eines Kampfes. Wem nützt das denn am Ende? Wollen wir die Fronten zwischen den Geschlechtern wirklich weiter verschärfen?

Sam Smiths derzeitiges sexuelles Aufbegehren wirkt dagegen wie ein Puffer. Es liegt am entspannten Umgang mit Sex, mit dem eigenen Körper und mit allem, das einem leicht den Tag vermiesen könnte. Es liegt aber auch an einem Novum: Smith ist keine Frau, die aufbegehrt, aber eben auch kein Mann, der das tut.

Smiths Körper wird nicht angehimmelt wie der eines Harry Styles

Dazu ist Smiths Körper nicht normschön, er wird als solches nicht angehimmelt wie etwa der Körper eines Harry Styles oder einer Miley Cyrus. Die beiden spielen zwar offensiv mit den Geschlechterrollen, bedienen aber mit ihren jeweils schlanken, athletischen Körpern und klassisch binären Narrativen – plakativ formuliert: der vogelfreie, tätowierte Hengst und die blonde, Bauch-Beine-Po-basierte Sex-Offensive – letztlich doch rigide, heteronormative Schönheitsideale.

Als Körper zwischen den Geschlechtern, der weder Normen noch Standards unterliegt, muss Sam Smith neue Pfade erkunden, sich dabei aber auch von queeren Ikonen früherer Epochen emanzipieren. Denn ja, auch etwa einem David Bowie gelang der Spagat zwischen den Geschlechtern, aber Bowies Sex Appeal war immer von einer Unnahbarkeit und Erhabenheit geprägt, die im heutigen Popgeschäft – zumindest im Mainstream – so kaum mehr möglich ist. Smiths Sexualität ist für alle ersichtlich, aber eben nicht so, wie sich das die Menschen von Mainstream-Popstars gewohnt sind. Smiths Körper ist so echt und einzigartig, wie es auf jede:n von uns zutrifft.

Ein Gewinn für unsere Gesellschaft

Dass die Zeichen für «Gloria» auf Mainstream-Erfolg stehen und «Unholy», Smiths Duett mit trans Künstlerin Kim Petras am Sonntagabend mit einem Grammy für die beste Pop Duo/Group Performance ausgezeichnet wurde, sehe ich als Zeichen für die Befreiung all unserer Körper; ein Zeichen dafür, dass individuelle Körper in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft als so begehrenswert angesehen werden wie die normschönen.

Dass «divers» Teil einer neuen Norm wird. Und wenn Erfolg mit der Haltung Naughty but nice gelingen kann, dann bedeutet das auch, dass man sich als sexuell selbstbestimmtes Wesen ausdrücken kann, ohne die Ellbogen ausfahren zu müssen. Es bedeutet, dass Sex Spass machen kann und kein Verlustgeschäft sein muss. Ich glaube, es wäre ein riesiger Gewinn für unsere Gesellschaft.

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