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«Ich freue mich auf die Ewigkeit»: Ein Abschied mit Sterbefasten

Leben

«Ich freue mich auf die Ewigkeit»: Ein Abschied mit Sterbefasten

Die Mutter unseres Autors ist des Lebens müde – und beschliesst, zu fasten bis zum Tod. Das Protokoll eines Abschieds.

Dieser Artikel ist erstmalig im Juni 2023 erschienen.

 

Die Geschichte, die ich hier erzähle, handelt von meiner Mutter. Sie spielt im Frühjahr 2019 – beginnt aber eigentlich schon Jahre zuvor.

Geboren wird meine Mutter am 14. Januar 1926, in kalten und kargen Zeiten. Sie ist das fünfte Kind, getauft auf den Namen Myrta; das Nesthäkchen, mehr als zehn Jahre jünger als ihre Geschwister. Ihre Mutter Louise – meine Grossmutter –, eine starke, aufrichtige Frau, trägt die Verantwortung für den Haushalt, die Kindererziehung und für den üppigen Garten, der zur damaligen Zeit zur Selbstversorgung der Familie notwendig ist.

Der Vater – mein Grossvater –, gross, rund, bärenstark, aber auch gemütlich, ist Lokomotivführer und engagierter Gewerkschafter. Die Familie, tief verwurzelt im christlichen Glauben, schenkt der kleinen Myrta viel Liebe und Geborgenheit.

Die heile Welt währt nur kurz

Doch die heile Welt im aargauischen Brugg währt nur kurz. Als Myrta eine junge Frau ist, bahnt sich in den Nachbarländern der Krieg an. Die Nazis führen ihre anfangs noch vielerorts gefeierten Feldzüge – und parallel dazu beginnt der grösste Pogrom in der Geschichte der Menschheit. Und das kriegerische Drama beschränkt sich nicht auf Nationen, es nistet sich überall ein – auch in Familiensysteme. In unsere Familie.

Myrta hat zwei ältere Brüder, Eduard und Hans. Beide sind dominant – und äusserst talentiert; Hans verfolgt energievoll seine sportliche Karriere, wird nach dem Krieg Direktor der Sportschule Magglingen und Konditionstrainer der Schweizer Fussballnationalmannschaft. Eduard, ein hochbegabter junger Mann, dem anscheinend alles mühelos in den Schoss fällt, wird Jurist und Pianist.

Gedemütigt, ausgegrenzt, angegriffen

Doch Eduard wird auch zum glühenden Nazi und gelangt auf steilem Weg in die Führungs- und Landesleitung der Nationalen Front; die einflussreichste Partei der sogenannten Frontenbewegung, die Anfang der 1930er-Jahre die Schweiz mit einer neuen völkischen Ideologie aufmischt. Für die Familie wird Eduard zum Problem und sein Irrlauf zur Katastrophe – zu spüren bekommt es vor allem der Vater, mein Grossvater. Er wird gedemütigt, ausgegrenzt und angegriffen; am Arbeitsplatz malen sie mit Kreide Hakenkreuze auf seine Uniform.

Durch diese Ereignisse verändern sich die Wahrnehmung und das Leben meiner Mutter dramatisch. Vor dem Krieg war sie offen, unbekümmert und hatte einen starken Glauben an das Gute; nun schleichen sich immer wieder schwerere Gedanken in ihr Leben. Vor allem Schuld und Scham über die Verbrechen an der Menschheit, die aus ihrer Sicht auch von ihrer eigenen Familie ausgehen, belasten sie. Äusserlich ist sie nach wie vor vital, kreativ und dem Leben zugewandt; in ihrer Seele zeigen sich jedoch vermehrt Risse und Ambivalenzen. Und dunkle Flecken. Sie wird sie ein Leben lang nicht los.

Eine zunehmende, schwere Müdigkeit

Frühjahr 2019. Meine Mutter, inzwischen 93 Jahre alt, lebt mit meinem Vater, zwei Jahre älter als sie, in einer Alterswohnung im Zürcher Oberland. Sie führen ein weitgehend selbständiges Leben, pflegen regelmässigen Kontakt zu ihren Kindern und Enkelkindern, zu Verwandten, Freund:innen und Bekannten. Es ist ein Tag im Mai, als mich meine Mutter anruft, um ein Treffen mit mir zu vereinbaren. Sie und Vater hätten «ein grösseres Thema» zu besprechen.

Intuitiv spüre ich, um was es gehen könnte. Schon seit längerer Zeit habe ich beobachtet, wie sich ein diesiger Schatten über das äusserlich harmonische Leben meiner Mutter legte; eine zunehmende, schwere Müdigkeit – eine Lebensmüdigkeit, ohne jede Aura einer depressiven Verstimmtheit oder gar Krankheit. Ich versuche, mich innerlich auf ein schwieriges, emotionales Gespräch einzustimmen.

Fasten bis zum Tod

An jenem Nachmittag eröffnet mir meine Mutter – in klaren Worten und in einer Bestimmtheit, wie ich es sonst bei grösseren Entscheidungen von ihr so nicht kannte –, dass sie sterben möchte. Und sie weiss auch schon, wie: durch Fasten. Sprich: Sie wird jede Nahrungsaufnahme verweigern, hört auf zu essen. Und zu trinken. Fasten bis zum Tod.

Ich bin nicht überrascht. Auch nicht schockiert. Ich habe mich in meinem Leben immer wieder intensiv mit Sterben und Tod auseinandersetzen müssen. Und vermutlich kommt mir auch meine Erfahrung als einstiger Leiter des Zürcher Lighthouse zugute, eines der ersten palliativmedizinischen Schweizer Hospize, in dem auf ganz unterschiedlichste Weise gestorben wird. Zudem realisiere ich relativ schnell, dass sich meine Mutter ihre Entscheidung wohlüberlegt hat. Ihre Vorstellungen von ihrem eigenwilligen Sterbensweg sind bereits weit entwickelt. Und sehr konkret.

Sie könnte noch viele Jahre leben

Wir sprechen an jenem und vielen weiteren Tagen noch lang über ihren Wunsch und ihre Motivation. Wir prüfen andere Möglichkeiten, suchen nach alternativen Antworten auf ihre körperlichen Beschwerden. Auf ihre Schmerzen. Zur Diskussion stehen eine ambulante palliative Behandlung oder auch einfach ein Übertritt in ein Pflegeheim. Die meisten Organe meiner Mutter funktionieren einwandfrei und ihr Herz hält im Alltag ein Schrittmacher in Takt; sie könnte noch viele Jahre leben.

Die Variante Heim würde sie, die sich seit siebzig Jahren gewohnt ist, täglich zwei gesunde Mahlzeiten auf den Tisch zu stellen, von allen Haushaltspflichten entlasten. Gerade das Kochen ist ihr in letzter Zeit schwergefallen. Doch dass Fremde für sie kochen, kommt nicht infrage. Und auch mein Vater kann sich nicht vorstellen, in ein Heim zu ziehen und damit die grosse Autonomie, die sie zusammen doch so sehr geniessen, bis zu diesem Tag, nun plötzlich aufzugeben.

«Ich mag nicht mehr»

Letztlich gehen alle Vorschläge, auch der einer ambulanten palliativen Behandlung, für meine Mutter am Thema vorbei: Sie will nicht mehr leben. Am Ende eines jeden Gesprächs landen wir bei ihrer unmissverständlichen Ansage: «Ich will nun sterben, ich mag nicht mehr, ich freue mich auf die Ewigkeit und darauf, dort alle verlorenen Seelen wieder zu treffen.» Und weil für meine Mutter auch die Sterbehilfe zum Beispiel mit Hilfe von Exit keinen gangbaren letzten Weg darstellt – aus religiös-spiritueller Überzeugung – würde es also dabei bleiben: Sterbefasten.

Doch was ist das überhaupt? In der Wissenschaft wird meist vom «freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit» gesprochen, bei dem es nicht primär um eine Beschleunigung des Sterbens, sondern eher um eine Vorverschiebung des Sterbeprozesses geht.

Eine uralte Kulturtechnik

Da aber offenbar auch bei Ärzt:innen und Pflegenden noch viel Unwissenheit und noch mehr Unsicherheiten bestehen, findet dazu im Oktober 2019 im Rahmen des Zürcher Fachsymposiums Palliativ Care eine Fortbildung statt. Der Titel: «Sterbefasten zwischen Romantisierung und Verteufelung». 160 Leute nehmen daran teil und sie erfahren unter anderem, dass es in den Institutionen und der Arbeit der mobilen Palliativ-Care-Teams bisher nur wenige Menschen gibt, die diesen Weg wählen.

Die Pflegewissenschafterin Ursula Klein betont denn auch, dass das Sterbefasten kein Spaziergang sei. Der Prozess, der bis zu drei Wochen dauern könne, brauche viel Durchhaltevermögen. Gleichzeitig betont der Ethiker Andreas Bachmann, dass es sich beim Sterbefasten um kein neues Phänomen, sondern um eine uralte Kulturtechnik handelt und dass die Methode durchaus zu einer individuellen Vorstellung eines abgerundeten Lebens passen könne. Eine Teilnehmerin etwa meinte ganz konkret, für sie sei die Vorstellung, dass ein Mensch am Lebensende mit Essen und Trinken aufhöre, das «Normalste der Welt».

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«Die Betreuenden leisten keine Hilfe zum Sterben, sondern beim Sterben: Sterbebegleitung»

Ursula Klein, Pflegewissenschafterin

Ein unglaublicher Wille

Natürlich werden auch Bedenken geäussert, Dilemmas erörtert und ethisch heikle Fragen aufgeworfen. Ich kann und möchte nicht auf alles eingehen. Nur so viel noch, weil es entscheidend ist: Beim Sterbefasten ist ein äusserer Druck, wie ihn beispielsweise Verwandte aufgrund einer Belastungssituation auf kranke und pflegebedürftige Menschen ausüben könnten, sinnlos. Der Verzicht auf Essen und Trinken bis zum Tod erfordert einen unglaublichen Willen; und der kann nur aus einer ganz persönlichen Motivation gespiesen sein.

Das Sterbefasten, so formuliert es Ursula Klein, unterscheide sich in mehrfacher Hinsicht vom Tod durch Suizidbeihilfe oder Euthanasie: «Zum einen ist aufgrund des langsamen Sterbeprozesses der Entschluss bis zu einem bestimmten Zeitpunkt umkehrbar. Zweitens tritt der Tod nicht abrupt ein, sondern es wird ein natürlicher Sterbeprozess durchlebt.»

Und für begleitende (Fach-)Personen liege der wichtigste Unterschied darin, dass die Tatherrschaft allein bei der sterbewilligen Person liege: «Somit sind die Betreuenden nicht an der Herbeiführung des Todes beteiligt, sie leisten also keine Hilfe zum Sterben, sondern beim Sterben: Sterbebegleitung.»

Pendeln zwischen Glück und Verzweiflung

Meine Mutter war Kindergärtnerin. Und als junge Frau wünscht sie sich einen Kleinkindergarten auch für ihre eigene Familie. Und so werden es letztlich sechs: vier Söhne, zwei Töchter – und das Glück scheint perfekt. Ein eigenes Haus, ein grosser Garten, eine kinderfreundliche Umgebung. Doch auch die Schatten aus ihrer Kindheit sind noch da.

Die innere Zerrissenheit – dieses Pendeln zwischen grossem Glück und tiefer Verzweiflung – manifestiert sich in wechselnden Stimmungen, Ambivalenzen und dem Gefühl, nicht ganz «normal» zu sein, irgendwie nicht reinzupassen in diese Gesellschaft. Und dann sind da auch immer wieder diese traumatischen Erlebnisse, die das alles befeuern. Über die Jahre verliert meine Mutter nicht weniger als drei ihrer sechs Kinder – und dabei fast den Verstand und ihren Glauben.

Tiefe Trauer

Wie nur kann Gott so etwas Schreckliches zulassen – wie an diesem wunderschönen Frühlingstag? Es ist der 10. Mai 1963, der Geburtstag meines Vaters. Meine Mutter ist, wie so oft, in ihrem nach anthroposophischen Richtlinien bestellten Garten. Das Wasser zur Bewässerung entnimmt sie wie üblich einem kleinen Wasserschacht. Doch an diesem Tag vergisst sie, den Deckel zurückzuschieben.

Irgendwann fragt sie mich, ob Caspar, mein kleiner Bruder, bei mir sei. Ist er nicht. Also fange ich an zu suchen, ohne mir viel dabei zu denken. Bis ich an den Schacht im Garten komme … Caspar, der «Sonnenschein» der Familie, zweijährig, wie immer neugierig auf alles, was da kreucht und fleucht, versuchte offenbar, im Wasser nach Maikäfern zu fischen. Und verlor sein Gleichgewicht – und sein Leben.

Hilflosigkeit, tiefe Trauer und unterschwellig wohl auch Wut legen sich wie ein bleierner Teppich über die familiäre Atmosphäre, ohne dass diese Gefühle und Empfindungen mit uns Kindern angemessen verarbeitet wurden. Meine Mutter, zutiefst erschüttert und verzweifelt, weint unendlich viel und fühlt sich abgrundtief schuldig.

Meine Mutter, eine unermüdlich Fragende

Und trotzdem oder vielleicht gerade wegen solcher traumatischer Erlebnisse bleibt meine Mutter ihr Leben lang eine unermüdlich Fragende, Suchende und sie lässt praktisch kein Thema aus, das sich mit existenziellen, sozialen, philosophischen und spirituellen Fragen beschäftigt. Ihr anfänglich etwas kindlich-naiver Glaube, inzwischen hart auf die Prüfung gestellt, gibt ihr weiterhin Halt und Zuversicht, bleibt Quell von Kraft und Hoffnung.

Dieser Tiefgang, diese Offenheit für alle basalen Lebensthemen und ihr gelebtes Engagement für Frieden, Gerechtigkeit, Feminismus und Umweltschutz sowie auch, dass sie trotz all der Schicksalsschläge eine doch immer wieder auch fröhliche, kreative und positive Frau bleibt, inspiriert selbst ihre Enkelkinder.

Sie sehen und hören, wie ihre Grossmutter Unterschriften sammelt, an Demos und Mahnwachen teilnimmt, einen Teil ihres Geldes verschenkt. Sie staunen über ihre junge, neunzigjährige Grossmutter, die über alles Aktuelle bestens informiert ist, sich an Geburtstage erinnert, immer weiss, wer wo in den Ferien weilt, und im Übermut auch schwierigste Gedichte auswendig rezitiert.

Es bedarf langer, klärender Gespräche

Sie, die Enkelkinder, sind es dann auch, die meiner Mutter diesen Schritt zum Sterbefasten anfangs nicht «erlauben» wollen und ihr vorwerfen, Selbstmord zu begehen. Es bedarf langer, klärender Gespräche, um den Jüngsten der Familie zu vermitteln, dass ihre Grossmutter eben gerade keinen Suizid begehen will – und genau deshalb den Weg des Fastens wählen möchte. Dass es nicht um einen Akt geht, der zum forcierten Tode führt, sondern darum, lebensverlängernde Massnahmen einzustellen.

Auch die Geschichte unserer Katze Stipsi hilft, die just in dieser Zeit nach vielen Krankheiten und Unfällen aufhört zu fressen und zu trinken und irgendwann nicht mehr nachhause kommt. Sterbefasten ist eine Kulturtechnik von Mensch und Tier.

Konkrete Umsetzungsszenarien

Im Spätfrühling 2019 sind die ersten konkreten Abklärungen gemacht, die ersten Schritte in Zusammenarbeit mit der lokalen Palliativorganisation unternommen. Im Juli folgen die konkreten Umsetzungsszenarien. In Absprache mit meinem Vater, seit über siebzig Jahren der Mann an der Seite meiner Mutter, erkläre ich mich bereit, den ganzen Prozess zu begleiten.

Es folgen teils sehr seltsam anmutende Planungssitzungen – fast so, als wären gemeinsame Ferien zu organisieren und nicht ein schmerzhafter Gang, an dessen Ende der Tod wartet. Einerseits ist da die Notwendigkeit, alles zu bedenken, nichts zu vergessen – auch ja keine ethisch-juristische Klippe. Anderseits gibts es immer wieder auch diese heiteren, fast schon lustigen Momente. So möchte meine Mutter die Couverts für ihre eigene Todesanzeige selbst anschreiben. Es huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie sich definitiv dafür entscheidet – «meine Lieben werden Augen machen, wenn sie von mir nochmals Post erhalten!».

Sie will nicht, dass wir ihr Nahrung oder Flüssigkeit zuführen

Auch sehr belastende Fragen müssen geklärt werden. Eine grosse Herausforderung beim Sterbefasten ist, dass sich in Folge von Dehydration enorme Durstgefühle und letztlich ein Delirium entwickeln können. Selbst unter Fachleuten ist man sich uneins, wie darauf zu reagieren ist. Die einen vertreten die Ansicht, dass Essen und Trinken nicht konsequent vorenthalten werden dürfen, wenn Patient:innen danach verlangen.

Das gelte selbst dann, wenn in der Patientenverfügung das Gegenteil festgehalten sei. Andere Stimmen wiederum finden, dass das Selbstbestimmungsrecht auch im Falle eines Delirs gelten müsse. Meine Mutter vertritt dezidiert die zweite Ansicht. Sie will nicht, dass wir ihr Nahrung oder Flüssigkeit zuführen, egal wie sehr sie auch danach verlangen sollte. Also schreibt sie eine entsprechende Verfügung, versehen mit ihrem Foto und ihrer Unterschrift drauf.

Drei Tage und Nächte im intimen Rahmen bei sich zuhause

Für meinen Vater und uns Kinder ist dies die schlimmste aller Vorstellungen; dass sie nach Flüssigkeit bettelt – und niemand darf darauf reagieren, wenn wir sie wirklich ernst nehmen wollen. Jeden Tag bis zu ihrem Tod bitte ich innerlich darum, dass «dieser Kelch» an uns vorbeigehen möge. Und parallel dazu bespreche ich mit der ärztlichen Leitung der Palliativstation mögliche Alternativen: sedierende Mittel etwa, die ein übermässiges Leiden zumindest lindern sollen.

Meine Mutter beschliesst, am 10. August den Fastenprozess aufzunehmen. Sie hätte lieber schon früher damit begonnen, aber die ganze Organisation liess das nicht zu. Geplant ist, dass sie und mein Vater die ersten Schritte auf dem Fastenweg allein gehen; drei Tage und Nächte im intimen Rahmen bei sich zuhause. So weit wie möglich ungestört.

Anschliessend ist der Übertritt in die Palliativstation eines Spitals organisiert, wo sie bis zu ihrem Tod betreut würde. Es ist ein Spital, das meine Mutter mit guten Erinnerungen verbindet; ihre Gotte, wegen einer schweren Erkrankung in Langzeitbehandlung, hat dort mal über viele Monate ein schönes Seesichtzimmer dauergemietet. Anscheinend gab es das mal als Möglichkeit für wohlhabende Leute …

Verabschiedung von ihren Nächsten

Die ersten drei Tage zuhause nutzt meine Mutter, um sich von ihren Nächsten zu verabschieden; von ihren Kindern mit allen Enkelkindern, vom Urenkel, von einigen Freundinnen und von der Pfarrerin, die sie spirituell begleitete und die Abdankung durchführen wird. Es sind berührende Stunden, an denen meine Mutter weiterlebt, weitestgehend so, wie sie es sich gewohnt war. Sie hatte seit vielen Jahren immer mal wieder und für längere Zeit Fastentage eingelegt, somit ist es für sie etwas Bekanntes; etwas, das sie eher noch belebt als belastet. Trotzdem fliessen auch viele Tränen.

Am vierten Fastentag, beim Übertritt ins Spital, ist meine Mutter körperlich bereits geschwächt. Sie sitzt im Rollstuhl, ist mental jedoch hellwach, stark und guten Mutes. Sie bekommt ein schönes Einzelzimmer mit Blick auf den See, so wie sie es sich gewünscht hatte. Mein Vater erhält die Erlaubnis, jederzeit bei ihr zu sein.

Innere Kämpfe

Meine Mutter bleibt auch in den folgenden Tagen äusserst wachsam, beobachtet, was mit ihr und ihrem Umfeld passiert. Gleichzeitig erfreut sie sich an den kleinen Dingen, an der schönen Sonnenblume auf ihrem Nachttisch. Es zeichnen sich in dieser Zeit aber auch innere Kämpfe ab, nicht des allfälligen Leidens wegen, sondern darüber, ob es von ihrem Glauben her auch angemessen sei, diesen Weg des selbstbestimmten Sterbens zu gehen.

Sie hadert auch damit, dass ihr Schöpfer, an den sie so sehr glaubt, ihr diesbezüglich keine deutlicheren Zeichen sendet; keine Antworten liefert. In einem lichteren Moment schickt sie an uns Kinder und Enkel:innen folgende, sehr berührende Voice-Nachricht: «Ich habe vor meiner Fastenzeit so viel gebetet, dass ich doch einfach sterben könne, und ich habe gehofft, dass ich eine Antwort erhalten werde. Aber niemand schien mich zu erhören. Und dann habe ich hier im Spital gemerkt, dass ich ja eine Antwort bekommen habe – das habe ich aber erst jetzt wirklich verstanden. Dass diese Antwort gekommen ist in der Form, dass ich so wunderbar begleitet und betreut werde von euch allen, dass ich so wunderbar Abschied nehmen konnte von jedem von euch.»

«Das Geschenk von Gott an mich»

An dieser Stelle brach meine Mutter kurz ab, weinte heftig. Als sie sich wieder gefasst hatte, fuhr sie fort:

«Das war die Antwort. Ich hatte sie von Gott erwartet. Und nun habe ich sie von allen Liebenden bekommen. Und deshalb bin ich so glücklich. Denn ich habe doch eine Antwort erwartet, ob es richtig ist, diesen Weg zu gehen. Und nun bin ich hier, auf diesem Weg, und ich merke, dass sich alles so wunderbar zusammenfügt. Das ist doch das Geschenk von Gott an mich. Jetzt wird es mir ganz wohl, weil meine Tränen meine Augen netzen und meinen Mund befeuchten. Ich danke euch, dass ihr euch das alles angehört habt.»

Die trockenen Schleimhäute, vor allem die Mundschleimhaut, sind bei meiner Mutter die schlimmsten körperlichen Begleiterscheinungen. Mit speziellen Sprays versuchen wir, die Beschwerden zu lindern. Und das Pflegepersonal achtet penibel darauf, dass sich meine Mutter im Bett nicht wundliegt und bei den Umlagerungen möglichst wenig Schmerzen hat.

Nur das Sprechen fällt immer schwerer

Meine Mutter hatte von Anfang an die Vision, innert sieben Tagen gehen zu dürfen. Ganz bestimmt. Schliesslich sei sie schon alt. Doch bereits im Vorfeld mussten wir ihr klarmachen, dass es unter Umständen auch viel länger dauern könnte. Und das tut es. Sieben Tage sind bereits vergangen.

Und bis zum elften Tag ist meine Mutter noch immer sehr präsent und klar in ihren Gedanken. Nur das Sprechen fällt ihr wegen der Mundtrockenheit immer schwerer. «Jetzt wär also doch wirklich langsam Zeit, zu sterben», meint sie oft. Und ich scherze, das sei nun eben die Quittung für ihr gesundes Leben. Da lacht sie jeweils ganz leise vor sich hin.

Stoische Gelassenheit

Was alle, die am Sterbeprozess meiner Mutter teilhaben, zutiefst beeindruckt, ist, mit welcher Stärke diese alte und an sich so geschwächte Frau das Leiden über sich ergehen lässt. Nicht ein einziges Mal beklagt sie sich ernsthaft darüber. Kein Klagen über Hunger oder Durst, nie ein nur leises Zweifeln oder gar Beschweren über den von ihr gewählten Weg. In stoischer Gelassenheit lässt sie die Tage an sich vorbeiziehen und freut sich über jede Geste der Erleichterung; eine sanfte Gesichtswaschung, eine Mundpflege oder ein paar entspannende Töne der Klangschale oder des Glockenspiels, das über ihrem Bett hängt.

Für meinen Vater hingegen ist es eine schwierige, belastende und traurige Phase. Er ist noch lang im philosophischen Zwiegespräch mit meiner Mutter, in Rückblenden auf ihr gemeinsames, nicht immer leichtes Leben und er bittet sie in manchen Dingen auch um Verzeihung. In den letzten Tagen sind es allerdings mehrheitlich Monologe, meine Mutter kann und will sich wohl auch verbal nicht mehr äussern.

Achtsamkeit ist von zentraler Bedeutung

Die Rolle der begleitenden Personen beim Sterbefasten ist nicht zu unterschätzen. Sicher gibt es diesbezüglich nicht einfach die eine richtige Art. Achtsamkeit und das feine Lesen von körperlichen Signalen sind jedoch von zentraler Bedeutung, wie ich finde. Und so muss ich meinen Vater während der letzten Lebenstage meiner Mutter bitten, sie vermehrt allein zu lassen. Für ihn ist das äusserst schwierig, möchte er doch jede gemeinsame Stunde noch auskosten. Meine Mutter aber, so zumindest verstehe ich ihre Botschaften, braucht dringend das Alleinsein, um sich dem Sterbeprozess hingeben zu können.

Sie, die zeitlebens zuerst an alle anderen gedacht hat und nun auch im Sterbeprozess noch an meinen leidenden Vater zu denken scheint, kann in seiner Gegenwart kaum wirklich loslassen. Mein Vater versteht – und zieht sich zurück. Doch es macht ihn traurig. Er muss das radikale Loslassen alles Irdischen seiner Frau respektieren, so wie er bereits im Vorfeld ihren eigenwilligen Weg in seiner ganzen Tragweite akzeptieren wollte, ohne zu sehr an sich und an seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu denken. Ich ziehe innerlich den Hut vor ihm.

Ihre Atmung wird immer flacher

Während der letzten zwei Tage ihres Lebens – oder Sterbens – ist meine Mutter nur noch beschränkt ansprechbar, alle Handreichungen haben ausschliesslich zum Ziel, zusätzliches Leiden zu verhindern und ihr den Weg freizumachen, dieses Leben und diesen Körper zu verlassen. Ihre Atmung wird immer flacher, stockt, ihre Augen bleiben meist geschlossen. Viele Male denken wir, das war er nun, der letzte Atemzug.

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«Ich verabschiede mich von meiner Mutter so, wie ich mir ein definitives ‹À Dieu› vorstellte»

Vor dem zweitletzten Tag habe ich, es ist bereits weit nach Mitternacht, die plötzliche Eingebung, zu ihr ins Spital zu fahren. Als ich dort ankomme, sind zwei Pflegefachpersonen gerade dabei, sie umzulagern. Ich helfe, wo ich kann. Beim Wenden ihres gebrechlichen Körpers schreit sie auf, herzzerreissend. Ich frage die Pflegenden, wie viel Schmerzmittel sie ihr gegeben hätten. Sie nennen mir die Dosis – und mir ist sofort klar, dass das viel zu wenig war.

«Ist das nicht normal?»

Ich frage nach, bitte etwas unwirsch um die höchstmögliche Dosierung. Sie seien nur zur Aushilfe hier, würden sonst in der Chirurgie arbeiten, entschuldigen sich die beiden – und willigen letztlich ein. Aber nicht ohne zuvor noch anzumerken, dass Menschen beim Sterben eben massive Schmerzen hätten: «Ist das nicht normal?» Ich werde sauer, sauer auf die Tatsache, dass auch heute noch vielfach eine adäquate Schmerzbehandlung fehlt, generell in der Medizin, aber punktuell auch in der Palliation.

Dabei ist doch seit Jahren bekannt, dass der Mohn beziehungsweise alle seine Derivate optimal helfen können, unerträgliche Schmerzzustände zu lindern. Welche Motive verbergen sich hinter dieser seltsamen Praxis? Mit einer konsequenten, professionellen und empathischen Schmerztherapie gäbe es, so bin ich überzeugt, weniger Alterssuizide. Im Gegenzug bekäme die Palliativmedizin, die nach wie vor in den Kinderschuhen steckt, mit ihrem ganzheitlichen Ansatz noch mehr Zuspruch.

Dann wäre den Menschen die Angst genommen, am Ende ihres Lebens unerträglich leiden zu müssen.

Die Zeichen stehen auf Abschied

Nachdem meine Mutter die angepasste Dosierung bekommen hat, entspannt sich ihr Gesicht. Gelassenheit macht sich breit. Ich meine, zu erkennen, dass es ihr nun recht wäre, allein zu sein – und fahre nachhause. Aber nur kurz. Denn die Zeichen stehen auf Abschied. Ich rufe meinen Vater an und sage ihm, dass ich den Eindruck habe, Mutter werde bald sterben.

Der dreizehnte Fastentag bricht an. Noch immer kein Schluck Wasser, kein Bissen Nahrung, kein Wort der Klage – dreizehn lange, meist bewusste Tage und Nächte des Wartens auf den erlösenden Tod. Nun ist es bald so weit. Über Mittag gehe ich erneut zu meiner Mutter. Mein Vater weicht ihr nicht mehr von der Seite. Wir reden nur wenige Worte. Und es stimmt so.

Weil ich in der Nacht zuvor praktisch nicht geschlafen habe, am Morgen trotzdem zur Arbeit musste und meinen Kopf doch nicht wirklich bei der Sache hatte, entscheide ich mich für eine kurze Mittagssiesta zuhause. Ich verabschiede mich von meiner Mutter so, wie ich mir ein definitives «À Dieu» vorstellte. Mein Vater bleibt. Hält ihr die Hand.

Zwei Stunden später, ich bin bereits wieder wach und auf dem Weg zurück in die Palliativstation, erreicht mich das Telefon der betreuenden Pflegefachfrau. Meine Mutter ist gestorben. Mein Vater war an ihrer Seite. Leise und still tat sie ihren letzten, erlösenden Atemzug. Ich atme auf.

Andreas Baumann (68) hat sieben Ausbildungen abgeschlossen. Gegenwärtig führt er in Zürich eine Praxis für Paartherapie und Mediation.

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Zoula

Danke für diesen so wichtigen und offenen Artikel! Bin noch ganz berührt über die Kraft und Stärke aller Beteiligten und auch Wertschätzung und Liebe, die diesen Begleitung trägt.

Joke Reudink

Welch eine berührende und wertvolle Geschichte. Herzlichen Dank für diesen mutigen Bericht. Liebevoll und respektvoll werden Wünsche der Sterbende wahrgenommen und ermöglicht. Es beeindruckt mich sehr wie die Familie den so schwierigen Prozess begleitet hat.
Bleibt zu hoffen, dass medizinische Fachpersonen zukünftig besser über Schmerzbekämpfung informiert sind und entsprechende Mittel bei Bedarf konsequent eingesetzt werden.. Das ist ein Qualitätskriterium in der Sterbebegleitung und sollte selbstverständlich sein. Ich bin sehr überrascht, dass dies anscheinend auch heute noch nicht immer der Fall ist.

Lotti

Das Leben ist ein Karussell ein auf und ab. Ich kann Menschen welche sich bei Exit oder sonst wo zum Sterben anmelden nicht begreifen. Auch zu Tode fasten verstehe ich nicht wie kalt man innerlich sein muss.
Ich denke: Leute wartet auf den Tod er kommt von selbst oft früher als es einem lieb ist. Alter ist kein Honigschlecken, aber bitte habt Ehrfurcht vor dem Leben bis zum letzten Atemzug.

Daniela

Ein so berührender Text. Ich musste weinen. Man spürt so viel Achtsamkeit, Wärme, Liebe, Tiefe, Glauben.
Danke fürs Teilen.