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Regisseurin Yana Ross bringt Pornostars auf die Bühne

Kultur

Regisseurin Yana Ross bringt Pornostars auf die Bühne

Die Regisseurin Yana Ross schickt Pornostars auf die Bühne. Ist das innovativ oder plumpe Provokation?

Wenn Yana Ross sich eines Stückes annimmt, geht das Theater meist auch nach dem Schlussapplaus weiter. Denn so scharfsinnig und überraschend wie die 48-jährige Regisseurin ihre Stoffe aufbereitet, gibt es immer viel darüber nachzudenken. Egal, ob es sich um Klassiker wie Tschechows «Drei Schwestern» oder – wie zuletzt – die Inszenierung von Ottessa Moshfegs Bestseller «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung» handelt – mutig, aber niemals respektlos legt die Hausregisseurin des Schauspielhaus Zürich frei, was die Menschen beschäftigt: Beziehungen in der Liebe, der Familie, im Arbeitsleben, in der Gesellschaft. Mal sperrt sie dafür wie bei Moshfegs eine betrunkene Mutter in den Eisschrank der Tochter – eine Anleihe an die gefühlskalte Welt –, mal lässt sie Filmstar Danuta Stenka achtzig Minuten lang schweigend auf der Bühne stehen, dem 360-Grad-Blick der Zuschauer ausgesetzt (Franz Xaver Kroetz’ «Wunschkonzert» an den Wiener Festwochen).

Neue Intensität mit Pornostars

Dass sie mit David Foster Wallace’ «Kurze Interviews mit fiesen Männern» am Schauspielhaus Zürich ausgerechnet am 11. September Premiere feierte, sei ein seltsamer Zufall, sagt die amerikanisch-lettische Regisseurin, die 9/11 in New York miterlebt hat. Sie sei sensibel für solche Koinzidenzen.

Wallace’ Erzählungen verschafft sie eine neue Intensität, indem sie zwei Adult Entertainer auf der Bühne spielen lässt – Pornodarsteller:innen mit jahrzehntelanger Erfahrung. Plumpe Provokation? Nein, das ist es nicht, was Ross, die als erste Frau auf der grossen Berliner Volksbühne Regie führte, interessiert. Sie sucht die Auseinandersetzung, mit ihrem Ensemble, dem Publikum, der Welt. Es lohnt sich, ihr zuzuhören – nicht, weil ihre Weisheiten in Stein gemeisselt wären, sondern weil Ross den Diskurs sucht und Denkanstösse liefert.

Yana Ross, in Ihrer neuen Inszenierung «Kurze Interviews mit fiesen Männern» haben Schauspieler:innen Live-Sex auf der Bühne. Sie sind als eine radikale Regisseurin bekannt, aber muten Sie dem Publikum da nicht etwas viel zu?
Das glaube ich nicht. Das Publikum in Zürich hat schon eine Menge zu sehen bekommen. Es hat einen ästhetischen Sinn entwickelt, der vieles zulässt. Wer in ein Stück von David Foster Wallace geht – den ich für einen ebenso genialen wie genial anzüglichen Schriftsteller halte –, der bringt ja per se eine gewisse Offenheit mit. Die Idee, Geschlechtsverkehr live auf der Bühne zu zeigen, kam für mich vom Autor selbst.

Wie denn das? Wallace ist doch schon lang tot.
Ja, aber seine Texte zu lesen ist wie ein Mindfuck. Seine Sprache zieht an und stösst gleichzeitig ab, ähnlich wie auch Pornografie zugleich erregt und anwidert. Ich hatte das Gefühl, das Stück mit der Körperlichkeit eines sexuellen Aktes eröffnen zu müssen, um das Publikum auf alles, was danach kommt, vorzubereiten.

Sie arbeiten mit zwei professionellen Pornodarsteller:innen zusammen. Möchten Sie das Skandalstück des Jahres abliefern?
Nein, ich will weder eine Schockwelle auslösen noch plump provozieren. Ich sehe das Stück vielmehr als ein Experiment, um einen unverstellten Blick auf Intimität und Einsamkeit zu bekommen. Ich will nicht zu viel verraten, aber wenn sich die Zuschauer:innen ihren Platz suchen, werden sie bereits mit dem Thema Sex konfrontiert – und haben die Wahl: Setze ich mich hin oder gehe ich lieber wieder nachhause? Für mich als Regisseurin erfordert das Mut. Ich konfrontiere das Publikum mit echter Sexualität. Das ist überaus intim und sehr persönlich.

Das Stück thematisiert Fragen zu Einvernehmen, Sex auf Augenhöhe und Beziehung. Übertragen Sie diese Fragen auf Ihr Verhältnis zum Publikum?
Ja. Wir schlagen Spielregeln vor, und die kann man akzeptieren oder nicht. Bei uns entscheidet das anwesende Publikum live, wie der Abend verlaufen wird. Unser Motor wird durch die Energie des Publikums angetrieben, und wir wiederum speisen die Zuschauenden mit Ideen. Das Publikum soll beim Nachhausegehen weiter darüber nachdenken, warum etwas gefallen oder gestört hat.

Ihre Schauspieler:innen müssen nackt auf der Bühne stehen und Sex haben. Sich derart zu exponieren muss doch sehr herausfordernd sein. Wie schützen Sie sie?
Conny Dachs und Katie Pears arbeiten bereits seit Jahrzehnten in der Pornobranche, sie sind es gewohnt, sich zur Schau zu stellen – anders als der Rest der Gruppe. Um sicherzustellen, dass die persönlichen Grenzen aller gewahrt bleiben, haben wir erstmals einen Intimacy Coach eingestellt.

Laut dem Schweizerischen Bühnenkünstlerverband haben achtzig Prozent aller Künstler:innen in den letzten zwei Jahren mindestens einen sexuellen Übergriff erlebt. 69 Prozent der Betroffenen waren Frauen. Kann ein Intimacy Coach die Situation verbessern?
Ich denke schon. Die #MeToo-Debatte hat die Filmbranche sensibilisiert. Doch am Theater gibt es die Funktion des Intimacy Coach bislang nicht. Wir leisten da Pionierarbeit. Auch hierzulande stehen Schauspieler:innen hierarchisch unter den Regisseur:innen oder Intendant:innen und sind potenziellem Machtmissbrauch ausgesetzt. Mit unserem Intimacy Coach Kasia Szustow, die auch schon für Netflix gearbeitet hat, haben wir nun eine Person, die den Schauspieler:innen die Sprache und die Werkzeuge an die Hand gibt, um sich zu behaupten.

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Wie genau macht sie das?
Kasia hat mit uns geübt, sich der toxischen Energie zu widersetzen, die in strengen Abhängigkeitsverhältnissen besteht. Nein zu jemandem zu sagen, von dem man abhängig ist, ist unfassbar schwierig. Wir alle kennen ja die Horrorgeschichten von Castings oder Proben, bei denen Schauspieler:innen aufgefordert werden, sich gegen ihren Willen auszuziehen und nackt zu performen. Gerade bei diesem Stück war es enorm wichtig, den Schauspieler:innen einen geschützten Raum zu bieten, in dem niemand negative Konsequenzen fürchten muss. Ich als Regisseurin darf zum Beispiel niemanden abstrafen, wenn er oder sie nicht das liefert, was ich mir vorgestellt habe.

In David Foster Wallace’ Erzählband werden wir mit Männern konfrontiert, die Frauen zu Sexobjekten degradieren, Spass an analen Gruppen-Vergewaltigungen finden und unfähig sind, Beziehungen aufzubauen. Dabei stehen über allem die Fragen nach dem Geschlechterverhältnis, dem medialen Einfluss und der Vereinzelung. War Wallace ein Visionär?
Wallace hat schon vor zwanzig Jahren Fragen aufgeworfen, die heute aktueller sind denn je: Was ist zwischen Männern und Frauen erlaubt und was nicht? Wann wird Verführung toxisch, wo wird Maskulinität zu Gewalt? Als Gesellschaft erleben wir gerade, wie schnell sich die Welt ändert, was Sprache, Optik, Gender-Verständnis, Beziehungen und die Regeln von Kommunikation anbelangt. Insofern ist Wallace für mich tatsächlich ein Prophet, und es spricht für seine Genialität, dass er all das lang vor der Allgemeinheit erkannt hat.

Obwohl Wallace zu einer Zeit schrieb, als das Internet noch im Aufbau begriffen war, legte er den Finger gezielt in die Multimedia-Wunden, mit denen wir uns heute herumschlagen. Er setzte sich etwa mit den emotionalen Folgen von Internet-Sex auseinander.
Ich glaube, dass er selbst noch nicht mal ein Smartphone hatte, trotzdem war er süchtig nach Medien und deren Einflüssen auf Popkultur und Sexualität. Er betrachtete Pornografie als Kulturgenre – das ist ein wirklich zeitgenössischer Ansatz. Denn obwohl wir als Gesellschaft die Pornografie im klassischen Sinne eher verdrängen, hat sie einen immensen Einfluss auf andere Bereiche. Alles Geile ist Porno: Fashion, Kunst, Food. Wallace hat schon damals Pornografie als Spiegel unserer Popkultur begriffen.

In Beziehungen erleben wir heute oft die Abnabelung der Sexualität von den Emotionen.
Und dies, obwohl wir die tief verwurzelte Sehnsucht verspüren, uns mit jemandem zu verbinden. Dass wir daran oftmals scheitern, macht uns traurig und einsam. Wallace hat genau diese Einsamkeit in unserer Gesellschaft erspürt und geschaut, wo sie wurzelt.

Wie sah es mit der Bereitschaft ihrer Schauspieler:innen aus, sich miteinander zu verbinden? Ensemble und Pornodarsteller: innen sind sonst in sehr gegensätzlichen Welten zuhause.
Auch hier hat unser Intimacy Coach wertvolle Arbeit geleistet und einen Raum des Vertrauens geschaffen. Es wäre Quatsch, die Unterschiede der Darsteller:innen zu leugnen, natürlich gibt es die. Entscheidend aber ist, dass alle Profis sind. Ausserdem war auf beiden Seiten eine unglaubliche Neugier, sehr viel Respekt und Zuneigung vorhanden. Es war schön zu sehen, wie Barrieren und Vorurteile schwanden. Zu spüren, was wir gemeinsam schaffen können, hat uns zu einem Ensemble gemacht.

Welches war die wichtigste Erkenntnis Ihrer Arbeit?
Wie voreingenommen wir alle durch unsere Sexualität, unser Geschlecht, unsere Geschichte, Erziehung und Gesellschaft sind. Wir haben uns bei dem Stück dazu entschieden, Sexualität und Geschlecht der Schauspieler:innen zu vermischen, das Weibliche in den Männern zu sehen und das Männliche in den Frauen. Die starre Angst vor dem eigenen Spiegelbild, das so viel verletzlicher sein kann, als wir zugeben wollen, ist ja nach wie vor sehr ausgeprägt. Wenn wir anfangen zu schauen, was hinter der Mann-Maske oder der Frau-Maske alles steckt, kommen äusserst schöne und verletzliche Dinge zum Vorschein. In den Proben habe ich gern eine der Vordenkerinnen der Queer-Theorie zitiert, die amerikanische Philosophin Judith Butler. Sie begreift die politische Korrektheit als konservative moralische Zensur.

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«Ich konfrontiere das Publikum mit echter Sexualität. Das ist überaus intim und persönlich»

Yana Ross

Inwiefern?
Politische Korrektheit ist eine starre konservative Moral, die festlegt, wie etwas zu sein hat, die urteilt und zensiert. Dabei geht es doch in der Kunst darum, Debatten zu eröffnen und die eigenen Vorstellungen loszulassen. Fragen wir uns lieber, wie es zu diesen Vorstellungen gekommen ist, woher etwa die Vorurteile gegenüber den angeblich so aggressiven Männern kommen.

Woher stammen sie denn?
Blickt man auf die Geschichte, sind Muster erkennbar: 50 000 Jahre lang wurde der männliche Körper auf den Krieg und die Jagd trainiert – als biologische Waffe. Der weibliche Körper indes war dafür zuständig, neue Krieger zu gebären. Stellen wir uns einmal vor, es wäre anders gewesen. Was hätten wir heute wohl für Frauenkörper, wenn wir seit Zehntausenden von Jahren Kriege hätten führen müssen? Natürlich kann man das nicht im Handumdrehen ändern, aber man kann daran arbeiten, die Dinge auszubalancieren. Es lohnt sich auch, in der Schweizer Geschichte zu graben, um die Historie der Schweizer Männlichkeit genauer zu betrachten.

Und was haben Sie dort beim Graben gefunden?
Der Dramatiker Lukas Bärfuss hat in einem unserer privaten Gespräche an die Geschichte des Traumas der Schweizer Soldaten erinnert. Die Männer wurden auch hierzulande zu Kämpfern erzogen, verliessen ihre Familien, um in die Schlacht zu ziehen und zu töten. Über Generationen und Jahrhunderte hinweg. Wer im Krieg meuchelt, kehrt oft traumatisiert heim. Doch die Männer haben jahrhundertelang versucht, ihre posttraumatische Belastungsstörung mit sich allein auszumachen und ihre Ängste, ihre Wut und ihre Einsamkeit zu verdrängen. Die Folge dieser Verdrängung war Gewalt gegen die Nächsten, die Partnerin, die Kinder.

Ist das nicht sehr vereinfacht? Die konservativen Rollenbilder, in denen viele Beziehungen heute feststecken, sind doch nicht dem Krieg geschuldet.
Natürlich wirken auch viele andere Faktoren auf unser Rollenverständnis ein. Doch den Männern wurden durch kriegerische Auseinandersetzungen viele Eigenschaften eingeimpft, die als typisch schweizerisch gelten: Ausdauer, Verschwiegenheit, Stoizismus und Verantwortungsgefühl. Es sind Eigenschaften, auf die man hierzulande stolz ist. Genau das macht es so schwierig, sich aus dem klassischen Rollenverständnis zu befreien. Aber es gibt Hoffnung für die neue Generation. Eltern sollten ihre Kinder dazu ermutigen, verletzlich zu sein und diese Verletzlichkeit auch zu zeigen. Das Theater kann einen Raum schaffen, um über solche Dinge ins Gespräch zu kommen. Man muss dabei nicht einmal selbst im Rampenlicht stehen und Antworten parat haben. Das übernehmen andere.

Seit 11. September im Schauspielhaus Zürich (Schiffbau-Halle): «Kurze Interviews mit fiesen Männern – 22 Arten der Einsamkeit». Inszenierung Yana Ross. Altersempfehlung: 18 Jahre, mehr Infos unter schauspielhaus.ch

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