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«Flüchtige Heimat»: Ein Fotobuch erklärt, warum wir uns heute entwurzelt fühlen

Literatur & Musik

«Flüchtige Heimat»: Ein Fotobuch erklärt, warum wir uns heute entwurzelt fühlen

Verner Soler emigrierte 1990 vom Bündner Bergdorf Vrin nach L.A. und dokumentierte Besuche im alten Daheim mit der Kamera. Sein neues Fotobuch macht deutlich, wie flüchtig der Heimatbegriff nicht nur für ihn, sondern für uns alle geworden ist.

Wie verändert sich das Verständnis von Heimat, wenn man 30 Jahre lang im Ausland lebt? Der Fotograf und Creative Director Verner Soler zog 1990 vom Bündner Bergdorf Vrin nach Los Angeles und geht in seinem «fotografischen Tagebuch» genau dieser Frage nach.

Eine eindeutige Antwort konnte auch er nicht finden, doch immerhin: Die Bilder und Worte, die nun im Buch «Flüchtige Heimat» auf 30 Jahre als Auslandschweizer zurückblicken, würden die Gefühle beschreiben, die er als Emigrant gegenüber seinem Heimatdorf habe, wie er zur Buchveröffentlichung erklärte.

Man ahnt es: Diese Gefühle, die der Fotograf für seine Heimat hegt, sind kompliziert. Was er in seinem Buch zeigt, ist aber überraschender als man leicht vermuten könnte, denn Verner Solers ganz persönliches Empfinden in seiner Lebensrealität als Emigrant wirkt mit jeder Seite ein Stück universeller.

Landflucht ist ein globales Phänomen – aber verstehen wir, was das wirklich bedeutet?

«Landflucht, also die Migration der Menschen von der Peripherie zur Agglomeration, ist ein globales Phänomen», schreibt er in den einleitenden Worten. Die ökonomischen und praktischen Gründe dafür seien gut dokumentiert, doch: «Die emotionalen Nebenwirkungen sind es weit weniger.»

Bei Soler selbst verursache die Emigration seit jeher Heimweh, oder schar encrescher, wie es im Rumantschen heisst, das in Vrin bis heute gesprochen wird. Dazu kommen Schuldgefühle, seine Familie mit dem Bauernhofbetrieb, in den er hineingeboren wurde, alleingelassen zu haben. Das Buch sei seine Art, damit umzugehen «und die Bindung zum Dorf und zur Familie aufrechtzuerhalten.» Letzteres spürt man schon allein in der Dreisprachigkeit des Werks.

Die Englischen, Deutschen und Rätoromanischen Texte sind teils übersetzt, hier und da ergänzen Passagen einander aber auch einfach. Man versteht schnell, dass sich manche Dinge wohl schlicht nicht ohne Bedeutungsverlust übersetzen lassen; weder Worte noch Gepflogenheiten. Dass ein Auswandern und das Eintauchen in neue Erfahrungswelten auch immer mit einer einem Zurücklassen verbunden ist.

Man erfährt etwa, dass Soler, bevor er sich 1990 mit einem sechsmonatigen Visa auf nach Kalifornien machte, ein halbes Jahr als Lehrer gearbeitet hatte. 2014 sei die Schule in seinem Heimatdorf schliesslich mangels Schüler:innen geschlossen worden. Der Gedanke, dass seine Heimat, wie er sie kannte, nicht ewig bestehen wird, brütete schon viel früher: «Beim Drücken des Auslösers wusste ich, dass diese Welt nicht mehr lange existieren würde», schreibt er zu einem Bild aus dem Jahr 1993. Ein paar Jahre später hätten die Bauern aufgehört, auf dem Maiensäss von Vanescha Käse zu machen.

Nichts lässt sich für immer konservieren, nicht einmal das Heimatgefühl

Er habe schon länger gespürt, dass er einen anderen Weg einschlagen würde als seine Eltern. Doch deren Geschichten hätten bis heute einen «romantischen Zauber»: «Geschichten, wie es im Dorf einst von Grossfamilien wimmelte, die sich auf ihren kleinen Bauernbetrieben mit dem begnügen mussten, was das Land hergab.»

Im Buch erhält man noch einen Einblick in diese Welt: Soler, der heute in Los Angeles als Creative Director etwa für die internationale Kreativagentur Saatchi & Saatchi arbeitet, zeigt seine Eltern beim Mähen der Wiesen mit der Sense. Seine Schwester, die den Bauernhof nach seinem Wegzug mit ihrem Mann übernommen hatte, wie sie nach den Bienen schaut. Und zahlreiche Bekannte aus dem Dorf, die in der elterlichen Küche ein- und ausgehen.

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Auf den ersten Blick könnte sich leicht der Eindruck verhärten, dass sich die Zeit an einem Ort wie Vrin schier zurückdrehen lässt. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass Globalisierung und Klimawandel selbst dieses entlegene Bergdorf in der Mangel haben.

Parallel zum technischen Fortschritt hielten neue Herausforderungen Einzug. Die Architktur, Landschaften und Lebenswelten, aber auch der Charakter des Orts veränderten sich unweigerlich.

Ein Stück weit sind wir alle Emigrant:innen

Verner Soler sagt, dass seine Heimat Vrin zu einem Ort wurde, den er nie wahrhaft verlassen, zu dem er aber auch nie vollends zurückkehren könne. Ein Gefühl der Entwurzelung mag bei einer Person, die emigrierte, zu einem gewissen Grad unausweichlich sein. Doch Solers Beispiel zeigt auch, dass die Gründe einer Auswanderung oft weitreichender und komplexer sind, als es uns während Jahrzehnten der relativen Personenfreizügigkeit vermittelt wurde.

Nur in seltenen Fällen wählen wir wirklich frei, wo unser Lebensmittelpunkt ist. Und selbst wenn: Die Vorstellung einer einzigen, unhinterfragbaren Heimat; die greift in der modernen Welt einfach nicht mehr. Unsere Welt wandelt sich unaufhaltbar, ob wir wollen oder nicht. Wer sich diesem Wandel verweigert, muss damit rechnen, früher oder später zurückgelassen zu werden. Wer weiter geht, ist vielleicht schon deshalb ein bisschen Emigrant:in.

Verner Solers «Home through an Emigrant’s Lens / Flüchtige Heimat / Bandunar e mai schar dar» ist beim Bündner Verlag Chasa Editura Rumantscha erschienen und wird über Scheidegger & Spiess europaweit vertrieben. Ende Oktober erscheint das Buch zudem in den USA.

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